Schmerz

Okay, Schmerz, auf in`s Gefecht. Jeder kennt Schmerzen. Du auch. Ich wende mich an Dich, wenn Du jemand bist, der den Dauerkonflikt mit dem Schmerz satt hat und keine rettende Idee hat. Schmerz kommt und geht. Immer. Spätestens mit dem Tod. Und das ist nicht zynisch gemeint. Die Akzeptanz des Sterbens ist der Akzeptanz des Schmerzes verwandt. Nun wird der Schmerz und das damit verbundene Leid zunehmend zum Problem (meine Beobachtung in der Praxis). Heißt: Einige von uns sind unfreiwillig immer schlechter in der Lage, Schmerzen und Beeinträchtigungen auszuhalten und dem Körper zu überlassen. Wie kommt das?

Hast Du in den letzten 30 Sekunden der Lektüre Deine Schmerzen oder Gebrechen wahrgenommen? Und bitte: Meine Patienten flunkern hier meistens, obwohl ihr Gesicht eine andere Sprache spricht. Wenn wir das Wesen einer Rede oder eines Textes erfassen, könne wir nicht zeitgleich das Wesen unseres Schmerzes erfassen. Bewußtsein ist nicht Multitasking sondern immer Mono. Also: Du hast kurz Dein Leid vergessen – stimmt`s? Beim Lesen war der Schmerz in seinem Wesen als beklagbares Leid nicht präsent. Vergessen. Du hast es gegessen – geschluckt, verdaut und weg. Wenn nur die Vorsilbe VER vor dem gESSEN nicht wäre. Letztlich hast Du hier die Ablenkungsnummer bemerkt. Das ist nur zweitklassiger Umgang mit Schmerz. Ich schlage Dir den erstklassigen Umgang damit vor – also die Nummer vom Indianer, der angeblich keinen Schmerz kennt. Wir bleiben beim Essen – jetzt ohne Ver.

Den Schmerz essen. Es gibt die Möglichkeit, Dich dem Schmerz komplett zuzuwenden. Genau so wie Du hier liest, schaust Du Dir Deinen Schmerz an und versuchst ihn in allen Facetten zu erfassen. Begib Dich hinein in den Schmerz. Wo taucht er auf? Aus welchem Material ist er? Wer nimmt ihn war? Wie verändert er sich? Es gibt keinen Lebensprozeß, der nicht in steter Veränderung ist. Auch die Psychosomatiknummer kurz streifen: Kommt der Schmerz, dann halte still und frage, was er Dir sagen will! Dich dem Schmerz ganz zuzuwenden, soll jedoch kein Ziel haben, sondern Ausdruck Deiner Bereitschaft sein, das Leben Vollspann zu nehmen. Der Schmerz gehört dazu.  Es tritt ein angenehmer Nebeneffekt ein. Unser Bewußtsein haßt es, über einen längeren Zeitraum an einer Sache dranzubleiben. Aber bleibe dran. Nicht lange und Du landest an einem Ort jenseits Deines Schmerzes. Dann hast Du ihn wie im obigen Absatz schon wieder vergessen. Raffst Du das? Deinen Schmerz, den kannste vergessen – jetzt echt mal. Vergessen durch Hinwendung. Probiere es aus.

Dein Schmerz lebt davon, dass du Dich unbemerkt mit ihm identifizierst. Dein Verstand erklärt ihn zum Objekt, welches Du besitzt. Damit wirst Du zum leidenden Subjekt. Wenn Dein Verstand diesen konditionierten Mechanismus durchschaut und erfährt, reiht sich Dein Schmerz und Leid in das Absolute ein. Diese Erfahrung ist real. Du kannst sie jedoch nicht erzwingen. Ich versuche mit meinen Worten, Deinem Verstand einen Hinweis zu geben. Vielleicht funktioniert es. Ich tippe hier mal noch einen Text von Fernando Pessoa ab, der das Schmerzphänomen in wunderbare Sprache verwandelt. Es ist ein Geschenk.

Was übrigens bei dieser erstklassigen Schmerzanbetung richtig stört, sind – sorry BayerHealthCare! – Schmerztabletten.  Dagegen ist zum Beispiel Cannabis durchaus einen Versuch wert, da es eine sprituelle Ebene eröffnen kann, die Dich befähigt, den Indianer in Dir wieder zu entdecken. So, jetzt Pessoa.

Unsere größte Angst für belanglos erachten, nicht nur im Leben des Weltalls, sondern auch in dem unserer Seele, deutet auf Weisheit hin. Dies zu tun, wenn diese Angst uns ergreift, bedeutet Weisheit. Leiden wir, erscheint uns der menschliche Schmerz maßlos. Doch ist weder der menschliche Schmerz maßlos – denn nichts Menschliches ist maßlos -, noch ist unser Schmerz mehr als ein von uns empfundener Schmerz.

Wie oft bleibe ich nicht stehen, niedergezwungen von einem an Wahnsinn grenzenden Überdruß oder einer noch darüber hinausgehenden Angst, ehe ich aufbegehre, stehe zögernd da, ehe ich mich zum Gott erhebe. Der Schmerz, das Geheimnis der Welt nicht zu kennen, der Schmerz, nicht geliebt, der Schmerz, ungerecht behandelt, der Schmerz, vom Leben erstickt, gefesselt, niedergezwungen zu werden, Zahnschmerzen, der Schmerz, weil uns der Schuh drückt – wer kann sagen, welcher von all diesen Schmerzen der schlimmste ist, für ihn selbst, für einen Anderen oder die Mehrzahl unserer Mitmenschen?

Manche, die mit mir sprechen und mich hören, halten mich für unsensibel. Ich halte mich jedoch für sensibler, als die umfangreiche Mehrheit der Menschen. Ich bin ein Sensibler, der sich kennt und und infolgedessen auch die Sensibilität.

Ach, es ist nicht wahr, das Leben ist nicht schmerzlich, und es ist auch nicht schmerzlich, an das Leben zu denken. Wahr aber ist, dass unser Schmerz nur echt und schlimm ist, wenn wir vorgeben, er sei es. Wenn wir natürlich bleiben, geht er vorüber, wie er gekommen ist, schwindet, wie er entstanden ist. Alles ist Nichts, unser Schmerz inbegriffen.

Ich schreibe dies unter dem Zwang eines Überdrusses, der nicht Platz findet in mir und mehr Raum braucht als meine Seele; unter dem Zwang von allen und allem, das mich würgt und verwirrt; unter dem körperlichen Gefühl, mißverstanden zu werden, das mich verstört und vernichtet. Doch ich hebe mein Haupt zum fernen Blau des Himmels, halte mein Gesicht in den unbewußt frischen Wind, senke die Lider, nach dem ich gesehen, vergesse mein Gesicht, nachdem ich gespürt habe. Mir ist nicht besser aber anders. Mich zu sehen, befreit mich von mir. Ich könnte beinahe lächeln, nicht, weil ich mich verstünde, sonder weil ich, ein anderer geworden, mich nicht mehr verstehen kann. Am hohen Himmel steht, wie ein sichtbares Nichts, eine winzige Wolke, ein weißes Vergessen des ganzen Universums.

Fernando Pessoa, am 5. April 1933